Der Sprung ins Leben

Der Sprung ins Leben

Toni, ein niedliches junges Kaninchen, weiß mit grauen Ohren, einer entzückenden grauen Stupsnase, grauen Pfötchen und unglaublichen roten Augen vollführte seine Kapriolen in einem Glasschaukasten .... trauriger Alltag in einer von Münchens vielen Tierhandlungen. Gerade von der Mama weggenommen saßen anfangs noch ein paar der vertrauten Geschwister mit im Glaskasten, bis sie der Reihe nach von großen fremden Händen weggegriffen wurden und auf Nimmerwiedersehen in einem gelochten Pappkarton verschwanden in dem sie weggetragen wurden, einem ungekannten Schicksal entgegen.

Da hefteten sich die stumpfen Augen eines Menschen auf das kleine Kaninchen. Tief in trüben Gehirnwindungen begann sich ein flüchtiger Gedanke zu formen, zum diffusen Wunsch zu werden und wurde auch schon in einer nicht durchdachten Aktion umgesetzt: „Haben wollen“. Mal eine Alternative zur Spielekonsole, ein „Stück Natur“ daheim in der Hochhauswohnung. Was „Nettes“ für die Kinder zum Spielen.

So kam es wieder mal zu einem Spontankauf eines süßen kleinen „Hasen“ ohne irgendeine Form von Schutz für das Tier, keine Ausweiskontrolle des Käufers, keine Überprüfung der Haltung, das Tier ging allein (ohne Artgenosse) und mit dem üblichen Zubehör wie Zimmerkäfig, Trinkflasche und Trockenfutter über den Ladentisch.

Fast ein Jahr lebte Toni nun in einem Zimmerkäfig in irgendeiner Hochauswohnung, allein, gesundheitsschädlich ernährt, bewegungseingeschränkt, in trockener überhitzter Luft, den Hochfrequenzen von Fernseher und PC ausgesetzt. Bis es dem Besitzer lästig wurde. Vielleicht kam auch schon die nächste Spielekonsole auf den Markt, plötzlich schien es dass „Hasen“ doch nicht so das Wahre seien, täglich füttern, dann der Dreck, irgendwie nervig.

Also erinnerte man sich einer Arbeitskollegin die auf dem Land lebte, ein großes Herz für Tiere und viel Platz hatte. Flugs wurde bei der nächsten Gelegenheit das Kaninchen als Überraschungsgeschenk überreicht und damit hatte man sich halbwegs tierfreundlich auch schon der eigenen Verantwortung entledigt. Ein Männchen sei es, wurde noch hinzugefügt. Ob aus Unwissenheit oder Berechnung bleibt offen. Die Kollegin, soweit kannte man sie jedenfalls, die selbst ein unkastriertes Kaninchenmännchen hielt, würde kein Weibchen aufnehmen.

Die Kollegin mit dem großen Herz ließ sich überreden und nahm das Kleine auf. Sie probierte auch eine Vergesellschaftung mit dem ausgewachsenen Stallkaninchen in einem kleinen Innengehege im Pferdestall, brach aber ab weil das selbstgebaute Gehege für ein so kleines Kaninchen wie Toni zu viele Durchschlupfmöglichkeiten aufwies. Toni wurde in eine Kaninchenbox gesteckt. Standort: der Pferdestall. Ab sofort ging täglich einmal die Käfigtür auf, eine Hand steckte Futter rein, eine freundliche Stimme sagte ein paar nette Worte, die Käfigtür ging zu und 24 lange Stunden Einsamkeit begannen mal wieder, ohne Abwechslung, bei sehr wenig Licht. Tag für Tag, Woche um Woche, Monate, ein ganzes Jahr und länger.

Die Konstellation änderte sich. Das männliche Stallkaninchen starb, zwei andere Weibchen wurden erfolgreich miteinander vergesellschaftet in einem Außengehege... aber Toni blieb davon ausgeschlossen, da der Mythos sie sei ein Männchen, bestehen blieb.

Eine Freundin, die manchmal zum Reiten kam, regte eine Kastration an um Toni aus der Einzelhaft zu befreien und in die Gruppe einzugliedern. Sie bot auch an, den erforderlichen Aufwand zu übernehmen. Die Besitzerin stimmte dann eines glücklichen Tages auch zu.

So kam es dass eines Abends die Freundin auf dem Hof aufkreuzte, Toni in eine Transportbox gesteckt und mit dem Auto weggefahren wurde.  Die folgende Nacht verbrachte Toni in einem fremden Zimmerkäfig. Die Nerven lagen blank. Toni knurrte und war ängstlich, verweigerte das Futter und akzeptierte nur wenige Blättchen Löwenzahn. Die liebevolle Stimme und die Hände die immer wieder streichelten, konnte Toni kaum wahrnehmen. Am nächsten Morgen steckte man sie wieder in die Transportbox. Diesmal ging die Fahrt in eine Tierarztpraxis wo der vermeintliche „Er“ bereits einen OP-Termin zur Kastration hatte. Aber es kam ganz anders. Bei der Geschlechtsbestimmung stellte sich heraus dass unser Toni weiblich war. Die OP hatte sich erledigt. Nebenbefundlich wurde allerdings eine Blasenentzündung festgestellt. Statt gleich die Reise zurück auf den Bauernhof anzutreten blieb sie also noch ein paar Tage im Zimmerkäfig um Antibiotika zu bekommen. Bald lernte sie dass von diesen Händen keine Bedrohung ausging. Am zweiten Tag teilte Toni schon mit, dass sie sich einen Bereich zum Graben wünschte. Das tat sie indem sie in einer Ecke des Käfigs wie verrückt anfing zu scharren. Toni wurde verstanden und ihr Wunsch ernst genommen. Der Zimmerkäfig erhielt einen Anbau. Ein zweiter Zimmerkäfig mit Rindenmulch und eingesteckten Ästen zur Simulation von Wald kam daneben mit einem Schlupf. Auch zwei Tage, solange war der Aufenthalt ja anfangs geplant, können lang sein im Leben eines kleinen Kaninchens. Sofort fühlte sich das Kleine immer mehr heimisch, hatte Lieblingsplätze, entwickelte Rituale, scharrte im Mulch und wälzte sich darin. Bis die Antibiotikabehandlung abgeschlossen war und Toni  zurück auf den Bauernhof sollte um im Gehege mit den beiden anderen Weibchen vergesellschaftet zu werden.

Die Menschenfrau bei der Toni jetzt eine Woche gelebt hatte, trug ein sehr schweres Herz als sie am Ende der Woche Toni wiederum in die Transportbox steckte um sie auf den Hof zu seinen Besitzern zurück zu bringen. Unterwegs hielten sie an um noch Löwenzahn zu pflücken, das Lieblingsfutter von Toni. Auch stand eine schwierige Vergesellschaftung bevor, zwei Weibchen in ihrem Revier würden nicht so ohne weiteres ein drittes junges Weibchen akzeptieren. Außer dem Rat ein neutrales Revier zu probieren, was definitiv nicht vorhanden war, hatte niemand eine Idee. Die Tatsache dass Toni ein Weibchen war, hatte den schönen Plan gesprengt. Wäre Toni wirklich ein Männchen gewesen, hätten beide Menschenfrauen leicht den Mut gefunden die Vergesellschaftung zu wagen. So aber war es ein wirkliches Problem. Da sprach die Besitzerin den einen Gedanken aus, der schon dauernd in der Luft hing: „Willst du es nicht zuerst probieren?“ Damit war gemeint dass ihre Freundin, die eine Kleingruppe von zwei kastrierten Männchen und einem Weibchen zuhause hatte, es mit Toni versuchen sollte. Hin und her gerissen zögerte die Freundin, denn das Weibchen in ihrer Gruppe war sehr dominant. Als Chefin im Gehege (im übrigen die weibliche Antwort auf General Woundwort (Watership Down) ) stand zu befürchten, dass Lilo mit Toni kurzen Prozess machen würde.

Trotzdem sollte Toni eine Chance bekommen. Also ging es wieder retour, zunächst mal zurück in den vertrauten Zimmerkäfig. Toni kurierte noch zwei weitere Tage ihre Blasenentzündung aus und als der Urinbefund in Ordnung war, fing sie an im Käfig zu springen und Haken zu schlagen. Damit teilte sie das nächste Bedürfnis mit: Freilauf.

Die vorhandene Kaninchengruppe bestand aus drei älteren Tieren. Zorro. schwarz-weiß, sehr freundlich, 9 Jahre, körperlicher Abbau bereits deutlich. Lilo, schneeweiß, blaue Augen, dominant, 7 Jahre, gehandicapt durch Arthrose in einer Vorderpfote. Nano, hellbeige-braunmeliert, 7 Jahre, sehr friedlich. Sie bewohnten ein Gartenhaus mit 2 Ebenen und angegliedertem Freigehege, 45 Quadratmeter insgesamt. Früher war die Gruppe größer gewesen, aber diese Geschichte steht auf einem anderen Blatt.

Die Methode „Gehege an Gehege“ (siehe Kaninchenwiese.de) schien der Menschenfrau am besten geeignet bei dieser Konstellation... für sehr aggressive und bzw. oder kranke, alte, gehandicapte Kaninchen.

Als Antwort auf Toni´s Wunsch nach Freilauf wurde also die Gehege-an-Gehege-Methode eingeläutet. Toni erhielt ein Stück Garten für sich Zaun an Zaun mit den anderen drei Langohren. Die erste Begegnung am Zaun wurde mit Spannung beobachtet: zur Verwunderung aller Menschen gab es fast keine Reaktion. Vor allem Lilo, bei der man große Aggressionen erwartet hätte, nahm fast keine Notiz. Die beiden Männchen schnupperten mal durch den Zaun. Toni stellte den Schwanz auf und sprang aufgeregt hin und her.

Ab dem zweiten Tag gab es Kämpfe zwischen Lilo und Toni durch das Gitter. Beide kassierten trotz dem Zaun Kratzer an der Nase. Die Männchen schnupperten nach wie vor interessiert, zeigten aber keine Aggressionen. Die Kämpfe zwischen den beiden Weibchen beschränkten sich im Laufe der nächsten Tage auf die erste Begegnung am Morgen. Es wurde ein gemeinsamer Futterplatz Zaun an Zaun eingerichtet damit die Gewöhnung schneller ginge. Zorro, Nano und Lilo saßen auffällig oft direkt am Zaun, obwohl sie sonst ganz andere Plätze bevorzugten. Sie gaben sich demonstrativ unbeteiligt, saßen aber wie zufällig immer in Tonis Nähe. Auch Toni richtete ihren Ruheplatz direkt daneben ein, auf der anderen Seites des Gitters. So ging es eine Woche, friedliches Nebeneinander am Zaun, gemeinsame Mahlzeiten Seite an Seite mit dem Draht dazwischen.

Die Menschenfrau überlegte wie es weitergehen sollte. Sie plante einen neutralen Bereich für einige Tage im Keller einzurichten für die Vergesellschaftung. Doch dann nahm Toni die Dinge in die Hand und besiegelte ihr Schicksal selbst. Sie sandte erneute eine Botschaft: „Will nicht mehr einsam sein.“

Ihre erste Aktion dabei war, dass sie am sechsten Tag der Bekanntschaft durch den Zaun tatsächlich einen Schlupf entdeckte und plötzlich im Gehege der anderen auftauchte. Die Menschenfrau kam wenige Minuten später hinzu, noch rechtzeitig um Schlimmes zu verhindern. Lilo und Toni hatten sich im Clinch, rollten zusammengebissen bei jeder Begegnung. Da Lilo, die nicht umsonst mit General Woundwort verglichen wird, bereits bei früheren Kämpfen ein Stück eines Ohres eingebüßt hatte und damals auch schon einen schlimmen Augenbiss einstecken musste, war die Menschenfrau nahezu panisch. Sie trennte die Kaninchen rigoros voneinander und nahm Toni aus dem Gehege. Am nächsten Tag wurde der Trennzaun abgebaut um lückenlos und tief im Boden eingelassen neu errichtet zu werden. Jetzt gab es keinen Schlupf mehr auch nicht für noch so kleine Kaninchen. Toni kam wieder in ihr Gehege. Wiederum kam es zu Beißereien zwischen ihr und Lilo durch das Gitter, die sich auf den Morgen beschränkten. Am achten Tag fasste die Menschenfrau sich ein Herz und probierte die Methode neutrales Revier – ganzer Garten – trotz all ihrer eigenen Ängste aus.

Als sich Lilo und Toni im neutralen Revier begegneten stürzten sie aufeinander, verbissen sich und rollten gemeinsam über den Boden. Die Menschenfrau ging mit dem Besen dazwischen. Dann beobachtete sie eindeutig dass nicht Lilo allein die Angreiferin war, sondern Toni ihr in nichts nachstand. Toni war sogar meist eher die erste Angreiferin. Durch ihre Jugend, Gesundheit und Beweglichkeit war Toni sogar deutlich im Vorteil. Und die Menschenfrau beobachtete auch dass Lilo ihre kranke Pfote viel zu sehr überanstrengte. Sie entschied abzubrechen. Sie entschied darüber hinaus, jeden Versuch einer Vergesellschaftung aufzugeben. Sie wollte weder Lilo mit ihrer Arthrose noch den alten Zorro weiter diesem Stress aussetzen. Sie entschied dass Toni mit den drei anderen weiter Gehege an Gehege leben sollte, ein Kompromiss zur totalen Einsamkeit und immer noch viel besser als die bisherige dunkle Kaninchenbox. Es wurde auch gleich ein eigener Außenstall für Toni bei Amazon geordert, bis sich die Konstellation eines Tages durch Tod eines der alten Kaninchen ändern würde bzw. die Menschenfrau wollte noch Informationen bei Kaninchenwiese.de einholen, an welchen Zeichen man erkennen kann wann eine Vergesellschaftung Gehege an Gehege als abgeschlossen gilt.

Doch diese Rechnung wurde ohne Toni gemacht. Toni muss die Schicksalsträchtigkeit dieses Entschlusses gespürt haben. Sie war verzweifelt, sie wollte nicht mehr einsam leben, sie wollte Freunde, Kuscheln, Putzen, Spielen.... sie wollte einfach nur ein artgerechtes Leben, sie wollte ihr Recht als Kaninchen. Nicht mehr und nicht weniger.

Und sie sah ihre Chance. Auch wenn es unmöglich war. Ein so kleines Kaninchen wie Toni, an der 1-Kilo-Grenze, und ein Zaun von 70 cm Höhe. Ohne Schlupf, mit Untergrabeschutz. Unmöglich!

Unmöglich?? Am 13. Tag war sie drin, zum zweiten Mal. Im Gehege der anderen, in Lilos Hoheitsgebiet. Als die Menschenfrau dazukam lag sehr viel weißes Fell überall und Lilo jagte Toni durch ihr Königreich. Toni flüchtete. Der Unterschied zum neutralen Revier lag jetzt darin, dass Toni nicht angriff sondern sich unterordnete. Sie akzeptierte Lilo in ihrem Revier flankiert von Zorro und Nano als die ranghöheren Kaninchen und flüchtete bei jeder Bewegung eines der Kaninchen. Toni suchte sich abgelegene Ecken in denen sie hoffte, geduldet zu werden. Als die Menschenfrau dies erkannte und auch kein Verbeißen ineinander mehr stattfand sondern nur wildes Jagen, wobei Toni mit Leichtigkeit entkommen konnte, und auch sah, dass sich Zorro und Nano nicht aus der Ruhe bringen ließen und nicht mitkämpften, entschied sie Toni im Gehege zu lassen. Unter engmaschiger Beobachtung. Das Gehege wurde nochmals auf mögliche Sackgassen kontrolliert und korrigiert.

Und es wurde schnell besser. Lilo war es bald müde so viel zu jagen, mit Nano und Zorro kam es bereits am zweiten Tag zum Kontaktschnuppern und kurzen Putzen, am dritten Tag zum Zusammensitzen und Kuscheln. Toni verlor ihre Ängstlichkeit und wurde immer fröhlicher, Lilo duldete Toni immer näher, selbst schon an der Futterschüssel.

Toni erfährt jetzt wie es ist wenn man graben kann, sie hat entdeckt wie gut Karotten schmecken und Äpfel, vor allem in Gesellschaft. Sie liegt in der Sonne, sie rückt jede Nacht ein wenig näher an die anderen heran und liegt am Tag schon oft mit den Männchen zusammen. Sie unterstützt Lilo bei deren Lebensbauprojekt „Kaninchenbau“ und ist abends voller schwarzer Erde und total erschöpft. Vor dem nächsten Winter hat sie keine Angst, denn sie weiß dass sie in der Mitte ihrer neuen Freunde liegen wird. Sie hat sich die Herzen der Menschen und Kaninchen erobert und wird auch noch mit Lilo zur Freundschaft finden.

So hat Toni den Sprung ihres Lebens gewagt in eine bessere Welt und gewonnen. Toni, ein mutiges kleines Kaninchen das selbstbestimmt sein Leben führt.

eine wahre Geschichte im Mai 2014 irgendwo in Bayern
Klarah z

Nachtrag
Zur Freundschaft hat es mit Lilo leider niemals gereicht. Duldung trifft es eher. Lilo und Toni sind beide sehr dominante Weibchen die ihre Probleme miteinander hatten. Die Beziehung blieb instabil und es kam immer wieder zu aufflackernden Kämpfen mit Fellflug und Verletzungen. Dies hielt an bis zu Lilos Tod Ende 2014.



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