Knochenwunder

Knochenwunder
die Kraft der Selbstheilung – Bio-Orthese beim Kaninchen


Die Evolution schafft mit dem Kaninchen ein perfekt an seine Umgebung angepasstes Tier. Als Fluchttier ist das Kaninchen für Schnelligkeit und Geschicklichkeit optimiert. Verletzungen des Sprunggelenks enden in freier Wildbahn tödlich.

Umso erstaunlicher zeigt sich manchmal das Phänomen, dass die Natur sogar ein Notfallset an Bord hat, das unter Umständen, wenn Flucht nicht überlebensnotwendig ist wie beim Hauskaninchen, biologische gut funktionierende Orthesen aus körpereigenem Knochenmaterial schafft.

Als Finn 2016, 2 Jahre alt, von der Menschenfrau adoptiert wurde, eilte ihm der Ruf eines schwierigen Charakters voraus. Er zeigte sich dann auch ein wenig launisch, unberechenbar und oft knurrig. Er kam mit einem Hinweis auf eine kurz zuvor verletzte Zehe, die bereits wieder abgeheilt war. Mit der Zeit wurde er freundlicher und zutraulich, hatte allerdings weiter seine Stimmungen. Mitkaninchen, speziell sein Kumpel Crain, waren an vielen Tagen nur geduldet. Es gab Tage voller Aktivität im Zentrum der Gruppe und Tage des Rückzugs.

Aus Finns Vergangenheit ist überliefert dass es in einer früheren Gruppe schlagartig Probleme gab, nachdem die 5er-Konstellation um zwei Rammler erweitert wurde. Finn kam nicht mehr klar und musste aus der Gruppe genommen werden. Er bekam mit Crain eine Männer-WG als Zweckgemeinschaft. Finn sei außerdem ein Vermehrungsunfall gewesen berichtete die Vorbesitzerin. Geschwister von ihm seien mehrere plötzlich morgens tot im Gehege gefunden worden.

Auffällig war von Anfang an eine Art motorische Ungeschicklichkeit. Sein Hoppeln irgendwie etwas schief nach rechts verzogen und tollpatschig. Als erstes Kaninchen in allen Jahren hatte er Probleme auf den Hasenleitern zu den erhöhten Schlafebenen. Extra für Finn wurde ein Geländer nachgerüstet da er fast abzustürzen drohte beim ersten Mal auf der Leiter. Mit der Zeit erwarb er sich hier eine gewisse Sicherheit.

Die Menschenfrau verbuchte all diese Auffälligkeiten unter Inzucht, da ungewollte Vermehrung wie die, aus der Finn entstand, oft zwischen Geschwistern passiert. Zwei angebliche Schwestern oder Brüder wachsen zusammen auf. Sind aber gegengeschlechtlich und es liegen plötzlich Babys im Nest. Überraschung!

Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet könnten die Stimmungsschwankungen und schlechtgelaunten passiven Tage auf chronische Erkrankung und Schmerzen deuten, mit wechselnder Tagesverfassung. Die motorische Ungeschicklichkeit gehörte zu Finn und wurde eigentlich nicht mehr hinterfragt. Finn lebte bereits über 3 Jahre bei der Menschenfrau, sein Verhalten und Bewegungsmuster immer gleich.

Ein neues Problem kam schleichend hinzu, die Hinterläufe waren nun manchmal innen durchnässt von Urin und wurden manchmal kahl. Leichter Blasenschlamm auf dem Röntgenbild was auch auf eine gewisse Bewegungsarmut deuten kann. Finn bekam vorübergehend ein Pflanzenpräparat (Rodicare Uro) für die Blase mit gutem Erfolg. Die Hinterläufe wurden wieder trocken, Fell wuchs nach. Doch immer wieder zwischendrin gibt es Tage mit nassen Hinterläufen. Laut Kaninchenwiese.de auch ein mögliches Zeichen für Arthrose/Schmerzen.

Bei einer routinemäßigen Kontrolle der Hinterläufe kam es im März 2020 zufällig zu der Situation, dass die Menschenfrau bei Finn genau das Sprunggelenk des rechten Hinterbeins zwischen ihre Finger bekam als sie das Beinchen zur Seite zog zur Fellkontrolle. Bisher hatte sie zufällig immer woanders angefasst und nichts bemerkt. Diesmal stockte sie und tastete nach. Ein deutlicher Knubbel am Knöchel außen war zu spüren. Bei genauerem Nachschauen und Tasten schien es sogar, als wäre der Fuß komplett nach innen versetzt. Es schien als stehe der Unterschenkelknochen neben dem Fußgelenk und nicht im Gelenk.

Erschrecken!  Panik!  Sorge!   Wie konnte das sein? Was war passiert? Und wann? Warum hatte sie das nie bemerkt? Die Menschenfrau beobachtete nun Finn mit Argusaugen. Kein verändertes Laufbild, kein verändertes Verhalten. Er benutzte sogar das rechte Hinterbein um sich am Ohr zu kratzen. Finn verhielt sich wie Finn mit all seinen Besonderheiten, die bereits fest zu ihm gehörten und vertraut waren.

Sofort ging es zum Tierarzt um eine akute Verletzung auszuschließen. Das Röntgenbild bestätigte den Verdacht. Der Unterschenkel und der Fuß sind nicht mehr durch das Gelenk verbunden. Sie stehen verschoben, ausgerenkt, mit bereits verheilten Bruchstellen. Die Verknöcherung der Verletzung ist weit fortgeschritten, Jahre alt. Im Gelenk zeigt sich auch starke Arthrose als Folge der Verletzung.

Finn hatte, soviel ist klar, irgendwann in seinem Leben einen schweren Unfall gehabt. Wobei er sich das hintere rechte Sprunggelenk auskugelte. Das wurde offensichtlich nicht behandelt. Die Natur hatte es im Laufe der Jahre geschafft, das Bein zu reparieren. Eine nahezu perfekte Orthese aus körpereigenem Knochenmaterial war gebildet worden. Finn benutzt sie mit absoluter Selbstverständlichkeit und ist so geschickt, dass außer einer gewissen Tollpatschigkeit bisher niemand etwas bemerkt hat.

Zur Zeit des Unfalls muss es sehr schlimm für ihn gewesen sein. Extrem angstmachend, über Wochen und Monate muss er mit starken Schmerzen und Einschränkungen gelebt haben und versuchte, dies vor der Gruppe zu verbergen. Es ist ihm gelungen. Körperliche Einschränkungen sind geblieben, jedoch erstaunlich gering. Was mit seiner Psyche dabei passierte bleibt offen. Die Menschenfrau begreift nun endlich seine Launenhaftigkeit und Knurrigkeit. Ein körperliches und seelisches Trauma kann eine Erklärung sein. Schon längst hatte sie ihn fest in ihr Herz geschlossen und jetzt erst recht noch viel mehr.

Es bleibt die bange Frage wann der Unfall gewesen sein könnte? Nicht kürzlich, soviel zeigt das Röntgenbild. Vor Jahren. Möglicherweise in den ersten beiden Lebensjahren. Vielleicht als Erklärung warum es plötzlich damals in der früheren Gruppe schlagartig so schief lief. Vielleicht eine Verletzung - oder Wiederverletzung - bei den Rangordnungskämpfen mit dem stark veränderten Verhalten anschließend. Sie glaubt es ausschließen zu können dass es in der Zeit bei ihr war, auch nicht bei der Vorbesitzerin die sehr verantwortungsbewusst war sondern noch früher bei den Vor-Vorbesitzern? Doch eine sichere Antwort gibt es nicht. Die Kalkeinlagerungen im Gelenk, die die Bio-Orthese (Versteifung in neuer veränderter Form) erzeugen, sind jedenfalls sehr alt.

Eine Operation macht zum heutigen Zeitpunkt keinen Sinn mehr da Finn gut klar kommt. Man würde ihm vermutlich mehr schaden als nutzen mit neuen Schmerzen und wieder veränderten Bedingungen im Gelenk und der Ausgang wäre sehr ungewiss. Stattdessen wird er beobachtet, erhält nun auf Dauer ein Pflanzenpräparat für die Gelenke und gegen Arthrose (Rodicare Artrin). In Narkose wurde ein genaues Röntgenbild gemacht und ein Beweglichkeitstest. Minimale Restbeweglichkeit im Sprunggelenk und Stützfunktion ist noch vorhanden. Ggf. muss bei fortschreitendem Alter und Beschwerden eine Schmerztherapie durchgeführt werden. Die Verdickung am Knöchel weist eine äußere Hautreizung auf. Vielleicht durch Eigenbisse bei Schmerzen? Mit Wundsalbe (Manuka Honig) soll nun die Haut geschützt werden um Dekubitus zu vermeiden.

So hat uns das Kaninchen wieder gelehrt wie wichtig selbst kleinste Auffälligkeiten im Verhalten und Bewegungsmuster sind, wie eng man als Mensch dran bleiben muss mit Beobachtung und engstem Kontakt mit mehr als unseren 5 Sinnen bis weit in die Intuition hinein.

Und die Natur hat gezeigt zu welchen Wundern sie fähig ist.

Klarah z, im März 2020





Röntgen Sprunggelenk rechts hinten

Finn März 2020
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