Hinter der Palette

Hinter der Palette

Hinter einer Palette wohnte ein junges Stallkaninchen. Ein süßer tollpatschiger Kerl mit langen Ohren und einer wunderschönen Fellfärbung, karamellbraun-weiß gemantelt. Das war kein guter Ort zum Wohnen, vor allem weil die Palette in einer Pferdebox an die Wand gelehnt stand. Unbefestigt, gefährdet wegzurutschen. Und doch war die Palette der einzige Schutz den der Kleine hatte, sich vor dem Haflinger zu verstecken. Der Haflinger war nervös. Der Geruch und die Bewegungen des Kaninchens irritierten ihn. Wann immer Tim, so hieß das Kaninchen, sich hervortraute ging der Haflinger auf ihn los und versuchte mit den Hufen nach ihm zu treten.

Tim war es gar nicht klar wie er an diesen Ort gekommen war oder warum. Die einzige Welt die er bisher kannte war aus Holz in fünf Richtungen begrenzt, die sechste Richtung war geschlossen durch ein Gitter, durch das Licht, Wärme, Kälte und Gerüche eingedrungen waren. Gerüche die Tim eine Ahnung vermittelten, dass da draußen noch ein Mehr an Welt existieren könnte. Gerüche die unbestimmte Sehnsüchte weckten. In seiner Welt gab es viel Stroh und ein großes weiches liebevolles Wesen das ihm Milch und Wärme spendete. Es gab auch noch kleine Wesen, so wie er, mit denen er kuschelte und spielte. Dann gab es noch Hände, die von außen in die Welt eindrangen und Gras und Rüben kamen mit diesen Händen.

Eines Tages kamen wieder diese Hände und diesmal griffen sie nach Tim. Tim wurde aus seiner Welt gezogen in ein seltsames Nichts ohne Halt nach oben oder unten und fand sich plötzlich an einem sehr engen dunklen begrenzten Ort der komisch roch und der heftig und brummend erschüttert wurde. Nur kurz war sein Aufenthalt darin, dafür waren Geräusche und Gerüche von außen umso intensiver und vollkommen unbekannt.

Als es aufhörte mit dem Dröhnen und der Bewegung fand er sich wieder in diesem Nichts und sofort danach in einer endlosen Weite aus Stroh. Dass es solche Dimensionen geben konnte, man konnte hoppeln eine lange Zeit bis dann doch eine Grenze erreicht wurde, diese Grenze war aus Stein, ein unbekanntes Material das sich kalt anfühlte. Aber wo war das liebevolle Wesen, seine Mutter? Seine Geschwister? Tim suchte die ganze große Welt nach ihnen ab ohne sie zu finden. Doch etwas anderes war da. Etwas gigantisches, riesiges, warmes, intensiv riechendes, sich bewegendes Fremdes. Allmählich realisierte Tim dass es sich um ein Wesen handelte von unvorstellbarer Größe. Weit über ihm ein massiger Körper auf vier riesigen Hufen. Und diese Hufe waren das Problem. Sie attackierten ihn. Gezielt rasten sie auf ihn zu wann immer er eine Bewegung wagte. Tim fühlte sich gejagt und fand keinen Augenblick Ruhe da er immer auf der Hut vor diesen gewaltigen Hufen sein musste, stets auf der Flucht.

Da entdeckte er die Palette. Sie war aus Holz, das kannte er. Sie lehnte an der Wand und dahinter war ein schützender Spalt in den er schlüpfen konnte. Hier fand er Schutz vor den Hufen, wenn diese auch außen an die Palette donnerten. Hier fand er auch eine gelbe Rübe die ihm den Hunger stillte aber nicht ausreichend seinen Durst. Durst war sein zweites Problem. Nirgendwo in dieser neuen bedrohlichen Welt fand sich auch nur ein Schluck Wasser. Der Durst wurde immer größer.

Das war die Situation die ein Mädchen, Mitte 20, vorfand als sie eines Abends wie immer zu ihrem Pflegehaflinger auf den Hof kam um auszumisten und ihr Pferd zu besuchen. Es war Ende der 80er Jahre auf einem Hof in Bayern.

Zuerst wunderte sie sich über die Palette die plötzlich in der Pferdebox lehnte. Nahm dann ein Rascheln dahinter war und zu ihrem größten Erstaunen tauchte plötzlich der junge Stallhase auf. Nach ein paar Hopplern im Stroh musste er wieder fliehen, da sich der Haflinger auf ihn stürzte. Der Haflinger attackierte das Kaninchen sobald es hinter der Palette hervor kam und er bearbeitete auch die Palette mit seinen Hufen, weil er dahinter eine Karotte witterte, an die er unbedingt heran wollte.

Das Mädchen verstand nicht den Sinn das Ganzen. Warum hier ein Kaninchen hinter einer Palette in einer Pferdebox einquartiert worden war. Am nächsten Tag würde sie beim Bauern nachfragen und würde die Auskunft erhalten, man hätte dem Haflinger eine Gesellschaft geben wollen. Der Haflinger stand allein in diesem Stall, was ihn nicht besonders glücklich machte. Was auch dem Mädchen seit Jahren Kummer bereitete. Was aber nicht in ihrer Macht stand es zu ändern. Die Palette war tatsächlich als Dauerlösung gedacht. Als Futter gelbe Rüben, eine Handvoll Heu. Wasser? „Kaninchen brauchen doch kein Wasser. Punkt. Bauernweisheit.“ Jemand dachte ernsthaft dass dieses Kaninchen für den Haflinger eine Lösung sei und dass es ohne Wasser existieren könnte. Diesen Wahnwitz sollte das Mädchen aber erst am nächsten Tag erfahren.... und hätte sie sowieso nie akzeptiert. Doch zunächst einmal war es bereits spät am Abend und dunkel. Die Bauernfamilie hatte sich schon zurück gezogen und das Mädchen wusste, dass sie es nicht schätzten jetzt noch gestört zu werden.

Das Mädchen beurteilte die Situation als extrem gefährlich: Für Tim bestand akute Lebensgefahr. Sie musste unverzüglich handeln. Sie nahm den Kleinen an diesem Abend mit nach Hause. Ohne zu fragen und ohne sich groß Gedanken um bestehende Gesetze zu machen, sie würde am nächsten Tag die Dinge mit den Bauern klären, notfalls das Kaninchen abkaufen.

Als Tim von den Händen des Mädchens aus der bedrohlichen Welt gehoben wurde spürte er die Fürsorge und Wärme. Die Hände hielten ihn sicher und gaben Halt, sie fanden die Stellen seines Körpers, wo er es liebte gestreichelt zu werden. Gerne ließ er sich mittragen voll Vertrauen in diesen Menschen.

Nach einem weiteren Transport erreichten sie die Wohnung des Mädchens. Dort lebten in weitgehend freier Zimmerhaltung zwei freundliche kastrierte Rammler. Tobias, ein hübscher schwarzweißer Holländerschecke, und Lukas, ein größerer roter Farbenzwerg aus dem Tierheim.

Der Neuankömmling bekam zuallererst Wasser angeboten. Er trank endlos lange, viele Minuten, und stillte all den schrecklichen Durst der letzten Tage.

Allen Vergesellschaftungsregeln zum Trotz nahmen Tobias und Lukas den Kleinen auf Anhieb liebevoll in ihrer Mitte auf. Sie entwickelten väterliche Gefühle, kuschelten und putzen mit ihm. Ja – es ist nicht die Regel.... aber diese beiden hatten diesen besonderen Charakter und das Mädchen wusste das und baute darauf.

Es war der Beginn einer wunderschönen lebenslangen Freundschaft. Tim, der aufblühte und zu wachsen begann, war bald größer als seine beiden Ziehväter. Doch das spielte keine Rolle. Die drei kuschelten und spielten und lebten zusammen mit Auslauf in Zimmer und Garten.

Lange Zeit später nachdem erst Tobias und später Lukas dem schwarzen Kaninchen des Todes folgten, traten Felix und Noriah, ein Farbenzwergpärchen aus dem Tierheim, in Tim´s Leben. Er nahm sie ebenso freundlich auf wie er selbst es seinerzeit erfahren hatte. Mittlerweile heiratete das Mädchen und zog mit ihrem Mann zu den Schwiegereltern, wo sie erstmals die Möglichkeit hatte, ein festes Außengehege zu bauen. Tim eroberte sich die Herzen der Schwiegereltern im Sturm und war bald deren auserkorener Liebling. Als er am Ende seines Lebens mit dem schwarzen Kaninchen des Todes ging, wurde er zu seiner letzten Ruhe gebettet auf einem Stück Land der Familie im Dachauer Moos. Dort spürt man ihn noch heute im Wind, im Boden, in der Luft. Sein einmaliger liebevoller Charakter wird nie vergessen sein.

Bayern, Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre

aufgeschrieben 2014
Klarah z

 

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