Wo bist du?

Wo bist du?
Die Geschichte von Gulla endet mit einem großen verzweifelten Fragezeichen?
Ein Tier verschwindet, sein Schicksal unbekannt, schlimmer kann ein Alptraum nicht sein.

2001 zogen zwei süße junge Zwergkaninchen, Gulla und Jonas, bei der Menschenfrau ein. Nach einem Umzug und nach dem Tod der beiden letzten Kaninchen Felix und Noriah aus der Reihe, die 1973 ihren Anfang nahm, sollte es nun weitergehen. Die Kinder sollten mit Kaninchen aufwachsen, aber es sollte eine bessere, eine artgerechte, eine gute Haltung sein, nicht vergleichbar mit 1973. Viel dazu gelernt, noch lange nicht perfekt, ging die Menschenfrau daran, Vorbereitungen für die Ankunft der Kaninchen zu treffen. Ein erhöht stehender Kaninchenstall mit Leiter ins Tagesgehege. Noch war käfigfreie Haltung nicht der Standard, wohl aber guter Wille vorhanden und freier Auslauf in einem abgegrenzten Teil des Gartens während der hellen Stunden eines jeden Tages, manchmal auch überwachter Auslauf im ganzen Garten. Gulla eine hellbraun-weiß gezeichnete wunderhübsche Häsin mit blauen Augen und Jonas, ein hellbraun-braun-schwarz melierter Rammler, gerade ihrer Mama entwöhnt, fühlten sich trotz der Einschränkung nachts ansonsten sehr wohl in ihrem neuen Zuhause.

Gulla und Jonas waren ein inniges Pärchen, Jonas wurde so früh kastriert dass die beiden überhaupt nicht getrennt werden mussten, sie führten ein zufriedenes Leben und waren glücklich zusammen.

Sie lagen gemeinsam im Gras, suchten sich Verstecke, erkundeten interessante Ecken, verschoben kleine Steine, nagten an Ästen, probierten Kräuter, spielten im Herbstlaub, tobten im Schnee, genossen die Sonne, kuschelten im Stroh, aber ihr größtes Hobby, ihre Leidenschaft, Begeisterung und liebste Beschäftigung war das Graben. Mit einer gescharrten Mulde fing es an, schon entstand ein Loch, ein tiefes Loch, ein sehr tiefes Loch, ein langer Gang dessen Ende nicht mehr tastbar war... und Berge an Erde die vor das Loch geschoben und von dort im Gehege professionell verteilt wurden. Erdbewegungen im großen Stil, und darüber vergingen drei Jahre. drei schöne, spannende, glückliche Jahre der Gemeinsamkeit, der Verspieltheit und großer Aufgaben, Stichwort Kaninchenbau.

Die halbherzigen Versuche der Menschenfrau, die entstehenden Tunnel alle zu verschließen, zuzuschütten, schlugen fehl, die Kaninchen hatten mehr Zeit, mehr Entschlossenheit, jede Menge Energie und noch mehr Tricks ihr Projekt zu tarnen. Sie verschwanden oft in ihrem Loch, kamen aber immer wieder brav und pünktlich am Abend heraus um im mardersicheren Stall zu übernachten.

Dann zogen Schatten auf, im Alter von drei Jahren fand die Menschenfrau Gulla eines Morgens mit erheblicher Bewegungseinschränkung bei schief verdrehtem Kopf im Stall vor. Voll Besorgnis ging es gleich zum Tierarzt, der eine medikamentöse Behandlung einleitete. Die Ursachen blieben unklar, es wurden nur Symptome behandelt. E. Cuniculi? Vielleicht, aber ohne Labortest nicht gesichert. Dennoch brachten die verschiedenen Medikamente erfreulicherweise erst mal Besserung. Gulla erholte sich, wenn auch nicht hundert Prozent. Ein Rest an Fehlhaltung blieb zurück, doch sie führte für wenige Wochen wieder ein fast uneingeschränktes Leben. Bis ihr Gewicht rapide runterrauschte. In erschreckend schnellem Tempo nahm Gulla ab, wurde extrem schwach. Der Tierarzt gab Vitamine und Aufbaupräparate, Spritzen und Tropfen, die Ursachen blieben wieder unklar. Gulla nahm weiter ab. Rückblickend war es ein langsames Verhungern bei einem Kaninchen, das eigentlich fraß. Was und wieviel sie allerdings wirklich an Nahrung aufnahm ist nicht bekannt. Auch wurde kein Zahnstatus erhoben, kein Röntgenbild, kein Labor.  Kaninchen – die unbekannte Spezies – selbst Tierärzte tappen oft im Dunkeln. Im veterinärmedizinischen Studium werden Kaninchen vernachlässigt, falsche Mythen halten sich hartnäckig über Jahrzehnte. Ihre Krankheiten geben Rätsel auf, das Kaninchen selbst verbirgt seine Symptome meisterhaft.

Am 1. September 2004 taumelte Gulla morgens aus dem Stall, fiel die Leiter mehr hinunter als zu klettern, sie war noch schwächer, noch dünner, noch kränker sofern das überhaupt möglich sein konnte, als die Tage zuvor.

Im Laufe dieses Tages verschwand Gulla. Als die Menschenfrau Gulla vermisste suchte sie das gesamte Gehege ab. Ohne Erfolg. Jede Ecke inspizierte sie, jeden Stein drehte sie um. Unzugänglich blieb nur der Kaninchenbau. In den konnte die Menschenfrau nicht hinein, weder schauen noch tasten. Als Gulla nach Stunden noch fehlte, als die Panik hohe Wogen schlug, griff die Menschenfrau zur Schaufel. Sie versuchte den Gang aufzugraben, scheiterte schon beim ersten Meter weil der Tunnel viel zu tief und viel zu lang und viel zu steil nach unten abfiel. Die Kraft fehlte, die Ausrüstung fehlte, das Know How, selbst die Hoffnung fehlte.

Als sich die Dämmerung über das Gehege senkte blieb Gulla weiter verschwunden. In dieser ersten Nacht lief die Menschenfrau immer wieder mit der Taschenlampe hinaus um nachzuschauen, um weiterzusuchen, rief nach Gulla in Angst und Verzweiflung. Am nächsten Morgen war Gulla noch immer nicht da. Weiter ging es den ganzen Tag mit Hoffen und Bangen und Suchen und Warten.

Sie wälzte alle Möglichkeiten im Kopf. Ausbruch? Nein, viel zu schwach, Zaun intakt, Jonas noch da. Gestohlen? Nicht plausibel. Greifvogel? Kaum, Schutz durch Büsche, eng stehende Häuser, noch nie gesichtet. Marder? Nicht am Tag.  Hunde? Katzen? Kaum, Jonas nicht in Panik, keine Vorfälle in der Vergangenheit. Der Gedanke der blieb war der Kaninchenbau. Gulla könnte hinein gegangen sein um dort unten zu sterben, oder dort unten von ihrer Schwäche übermannt zu werden. Dies ist die Version die die Menschenfrau noch heute glaubt, sie betrachtet den Kanichenbau als Gullas Grab, sie hat ihn dann doch verschlossen, mit allen Mitteln und in allen Folgejahren stets nachgebessert. Sie hat damit allerdings lange gewartet, Wochen.... falls Gulla nochmal versucht hätte den Weg aus dem Bau zu finden. Was nie geschah. Vermutlich ruht sie dort unten für alle Zeit, unvergessen, sehr vermisst, betrauert, nie gefunden.

Gulla, wo bist du?

aufgeschrieben im Januar 2018 – Klarah z

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