Erste Opfer

Erste Opfer... eine traurige Kaninchengeschichte  

Kaninchen sind kein Kinderspielzeug. Sie sind auch kein Ersatz für einen Hund weil man denkt, mit ihnen habe man weniger Arbeit. Sie brauchen Artgenossen und Freilauf um glücklich zu sein. Eine gesunde Ernährung hält sie fit und gesund. All dies wurde missachtet als eines Tages im Jahr 1973 eine Familie mit 3 Kindern loszog, sich „Hasen“ anzuschaffen. In einer Tierhandlung durfte sich jedes der drei Mädchen, 9, 7 und 6 Jahre alt, ein Häschen aussuchen. Miranda, ein niedliches weißes Tier mit grauen Ohren, grauem Schwanz, grauen Pfoten und unglaublichen roten Augen für die Älteste. Schnucki, ein putziges dunkelgraues besonders kleines Tierchen für die Mittlere und Molli, ein süßer schwarz-weißer Schecke mit lustiger Maske für die Jüngste. Drei männliche Jungtiere, auch Miranda war trotz des Namens männlich.

Auf der Rückfahrt hielt man sie aufgeregt in den gelochten Pappkartons auf dem Schoß und lauschte andächtig dem Rascheln im Inneren der Behälter.

Daheim im typischen Reihenhaus der 70er Jahre angekommen wurden die drei Süßen erst mal in einem großen Pappkarton in der Küche einquartiert. Nun saßen alle drei Kinder jeden Nachmittag rund um eine große Decke auf dem Boden und bestaunten die lustigen Sprünge der Kaninchen. Es war für die Kinder eine schöne spannende Anfangszeit und für die Kaninchen wohl die schönste in ihrem Leben, als sie frei umherspringen durften und mit anderen Kaninchen lebten.

Eine von vielen Gefahrenquellen, denen Kaninchen in einem Pappkarton in einer Küche zwangsläufig ausgesetzt sind, wurde beseitigt nachdem Schnucki in der Griffmulde des Kartons mit dem Kopf stecken blieb und sich fast erdrosselte. Die Mutter schnitt die Griffmulden riesig groß aus und die Kaninchen konnten nun durchspringen. Man hatte ja keine Ahnung.... man glaubte ja auch es mit Hasen und Nagetieren zu tun zu haben. Heu sah man als Einstreu an. Dass ein Pappkarton in der Küche keine Endlösung sein konnte war den Eltern natürlich klar. Während die Kinder oben noch täglich ihre Kaninchen streichelten und herumtrugen, sägte und schraubte der Vater bereits unten im Hobbykeller. Ein „Hasenstall“ wurde gebaut. 150 cm lang und 40 cm tief. Ungefähr 50 cm hoch. Mit Klappdeckel. Vorne eine Plexiglasscheibe. Mit Zinkwanne zum herausziehen. Keinem in der Familie war klar welches Foltergerät hier im Entstehen war, sofern man Kaninchen auf Dauer darin einsperrt ohne freien Aus- und Zugang in ein Gehege. Und genau das war geplant.

Ob Schnucki schon eine Ahnung hatte.... jedenfalls verabschiedete sich das winzige graue Kaninchen eines Nachts nach kaum 3 Wochen im Pappkarton. Er ging mit dem schwarzen Kaninchen des Todes in die andere Welt von der wir träumen, dass sie schöner ist. Vermutlich die bessere Wahl in diesem Fall.

Das gab natürlich Tränen!! Am nächsten Morgen waren die Mädchen untröstlich. Schnucki wurde im Garten beerdigt und zum Trost sofort ein Ersatztier gekauft. Ein Kaninchen das fast genauso aussah. Und ebenfalls Schnucki getauft wurde damit die Mädchen nicht so viel an den Tod des ersten Schnucki erinnert wurden und ihn schneller vergessen könnten.

Die Zeiten der lustigen Sprünge in der Küche gingen zu Ende. Der Hasenstall war fertig. Er war riesig, so als Mobilar. Aber unzulänglich als Unterkunft für Kaninchen. Weil er den Eltern doch so groß erschien und irgendwie unschön wirkte in der Wohnung, wurde der Stall vom ersten Tag an im Keller aufgestellt. Der Keller war ein Werkzeugkeller, ziemlich unaufgeräumt. Staubig, kalt und dunkel. Unverputzt. Betonboden. Mit Außentür und Kellertreppe. Davor wurde der Stall abgestellt damit ein wenig Licht einfallen könne. Und die Kaninchen alle drei hineingesetzt. Noch waren sie zusammen und konnten die nicht artgerechte Umgebung gemeinsam vielleicht besser ertragen. Denn sie kuschelten und putzen sich und konnten doch immerhin 150 cm weit springen und laufen. Die Besuche der Mädchen nahmen rapide ab von dem Tag an, als der Stall im Keller stand. Es war ein zu ungemütlicher Ort. Die Mädchen bettelten dass der Stall nach oben dürfe, aber der Vater blieb unerbittlich.

So wurde das Kaninchenversorgen bald zu lästigen Pflicht. Die Kinder mussten in den Keller steigen, wo es Spinnen und Staub gab und man sich nicht mehr zu den „Hasen“ auf den Boden setzen konnte. An Freilauf war nicht mehr zu denken da sie sofort unter dem Gerümpel verschwunden waren und man sie nicht wieder finden konnte. Morgens in Hektik vor der Schule und abends auf Ermahnen der Mutter noch kurz vor dem Schlafengehen, darauf reduzierte sich die tägliche Versorgung schon bald. Wenigstens hatten die Kaninchen einander.... noch. Bis sie geschlechtsreif wurden.

Mit Einsetzen der Geschlechtsreife begannen die ganz normalen Rangordnungskämpfe und zwar heftig. Die Kaninchen verbissen sich ineinander und rollten im Knäuel. Sie mussten getrennt werden. Auf Dauer. Der Vater baute zwei Trennwände in den Stall und jetzt saß jedes Kaninchen nur mehr auf 50 x 40 cm. Im Halbdunkel des kalten Kellers. Ein wenig Licht das durch die Kellertür einfiel, keine Sonne. Gerüche ja, vor allem im Sommer. Ob die Kaninchen wohl träumten sie liefen durch diese Tür, den Gerüchen nach, in die Wärme und in das Licht? Ob sie an lauen Sommerabenden. wenn die Tür noch offen war und dieser unglaubliche Geruch des Sommers sie erreichte, wohl noch Hoffnung hatten oder an nichts mehr glaubten. Sie hörten die früheren Freunde durch die Holzwand und konnten diese auch riechen, mehr nicht. Mehr nicht. Mehr nie. Nie mehr in ihrem Leben sollten sie andere Kaninchen spüren, fühlen, putzen dürfen.

Nur ganz selten, manchmal, wenn die Kinder mal dran dachten, Zeit fanden und das Wetter soweit  passte, nahmen sie das eine oder andere Kaninchen mit nach oben, ließen es kurz in Wohnung oder Garten laufen, fuhren es in umfunktionierten Puppenwagen mit Heu spazieren oder legten sogar ein Brustgeschirr an und versuchten es mit der Leine. Die Ausläufe im Garten waren viel zu selten und viel zu kurz und immer einsam. Über das Brustgeschirr schweigen wir lieber, ein sogenannter „Fachhändler“ hatte es empfohlen. Die Kaninchen gerieten darin nur in Panik und die Mädchen stellten diese Versuche auch bald ein.

Miranda gab als erste auf. Sie starb nach 3 oder 4 Jahren. Er starb. Miranda war ja männlich, man hatte es allerdings irgendwie vergessen und sprach aufgrund des weiblichen Namens von „ihr“ wie von einem Weibchen.

Nun konnten sich Schnucki und Molli wechselnd den freien Platz von Miranda teilen indem das Trennbrett so oder so umgesteckt wurde. Und hatten 50 cm mehr Lebensraum hin und wieder.

Drei weitere Jahre gingen ins Land, den Wechsel der Jahreszeiten durften die Kaninchen nicht erleben, die Winter merkten sie daran dass es noch weniger Licht gab und viel mehr Kälte. Einsam und ohne Beschäftigung saßen sie da, immer nur in der Box mit Sägespänen und Heu. Zweimal täglich ging die Klappe auf und eilige Kinderhände brachten Futter, erneuerten Wasser und säuberten die Ecken. Aus den Augen aus dem Sinn, keine Zeit, andere Interessen.

Und dann vollzog sich doch eine Wandlung, eine Änderung. Das älteste der Mädchen, mittlerweile 16 Jahre alt, begann allmählich die Situation der Kaninchen wahrzunehmen. Als ob eine stumme Botschaft, ein gedanklicher Hilferuf, den die Kaninchen verzweifelt immer wieder aussandten, sie endlich nach all den Jahren erreicht hätte. Sie begann sich in die Kaninchen einzufühlen, mit deren Augen die Welt zu sehen. Und erschrak zutiefst. Vor dem Abgrund des Grauens den sie selbst geschaffen hatte, gegen den sie zumindest nicht genug unternommen hatte. Die Reue, die Scham traf das Mädchen mit voller Wucht. Das Bewusstsein war nun vollends da, unsere Kaninchen leiden. Sie führen ein schreckliches Leben.

Gegen den Willen ihrer Eltern holte sie Molli aus dem Stall im Keller und baute ihm in ihrem Zimmer einen  Käfig auf und ermöglichte ihm soviel Freilauf im Zimmer wie irgend möglich. Sie überredete die jüngste Schwester, das gleiche mit Schnucki in deren Zimmer zu tun. Wem letztendlich welche „Hasen“ offiziell gehörten, war jetzt egal.

Und erstmals entstand eine gefühlsmäßig tiefe Bindung zu den Tieren. Vor allem zu ihrem Zimmerbewohner, Molli. Aber auch zu Schnucki. Sie beobachtete die Kaninchen, registrierte die Verhaltensweisen, beschäftigte sich sehr intensiv mit den beiden, vor allem mit Molli.

Molli, ein ganz besonderer Charakter, war ein sehr dankbares Tier. Er genoss das Streicheln, lag stundenlang auf dem Schoss, war sehr zutraulich und anhänglich. Das Mädchen war sich dessen so sicher dass sie mit Molli Ausflüge in den Wald unternahm. Wo sie ihre Decke ausbreitete und ganze Nachmittage mit einem Buch verbrachte. Molli lief derweil frei umher im Wald, blieb aber immer im unmittelbaren Bereich der Decke und ließ sich jederzeit hochnehmen. Hätte die Schreiberin dieser Geschichte das nicht selbst erlebt, sie ist nämlich die älteste dieser drei Schwestern damals, sie würde es heute als erfundene übertriebene Geschichte abtun.

Fünf Jahre lebte das Mädchen sehr eng mit Molli in ihrem Zimmer. Sie tat alles für den „Hasen“ und liebte ihn abgöttisch. Leider noch auf der falschen Schiene. Molli war viel zu sehr ein Kuscheltier und auch ein Ventil für all den Kummer, der in der Pubertät ja normal ist. Sie hatte sich schon bald den tiefen Groll ihres Vaters zugezogen nachdem Molli die Tapeten und Teppiche im Zimmer doch ziemlich beschädigte. Doch sie trotzte sich die Erlaubnis ab, den Hasen weiter im Zimmer zu behalten. Molli, und auch Schnucki bei der Schwester, hatten jetzt ein besseres Leben als im Keller. Sie hatten Licht und Bewegung, Wärme, Ansprache, Beschäftigung, Auslauf im Zimmer. Aber sie hatten noch immer kein artgerechtes Leben und keine Kaninchengesellschaft.

Molli wurde zum Erstaunen aller 12 Jahre. Trotz definitiv nicht artgerechter Haltung und falscher Ernährung. Vielleicht war es die Liebe des Mädchens die ihn so weit getragen hatte? Oder er wollte ihr noch eine Chance geben sich zu wandeln und zu begreifen, was auch zu einem späteren Zeitpunkt geschah. Aber erst einige Zeit nach Mollis Tod.

Schnucki wurde knapp 9 Jahre und starb aufgrund zu vieler Narkosen wegen immer wieder notwendigen Zahnoperationen. Das alte Problem mit zuwenig Raufutter und allgemein ungesunder Ernährung führte zur Zahnfehlstellung. Damals noch alles völlig unbekannt für die Schwestern. Sie hatten auch nicht gewusst dass sich Rammler miteinander vertragen wenn man sie kastriert. Was wäre den Kaninchen nicht alles erspart geblieben.

Nach Molli´s Tod durch Herzinfarkt im Alter von 12 Jahren brach die Welt des Mädchens zusammen. Sie trauerte und litt wie nie in ihrem Leben. In einer Zoohandlung fand sie den kleinen Jonas, ein süßes hellbraunes Kaninchen mit dunklen Ohren und braunen Knopfaugen. Sie kaufte ihn wie in Trance. Ohne die Erlaubnis ihrer Eltern. Sie stellte ihre Eltern vor vollendete Tatsachen und hatte nun wieder ein Kaninchen im Zimmer. Immer noch nicht artgerechte Haltung, der Mensch als Ersatz für alles was ein Kaninchen eigentlich bräuchte. Kein ausreichender Ersatz.

Aber das Mädchen war lernfähig. Und Jonas sollte es schon wesentlich besser ergehen als seinen Vorgängern. Das Mädchen zog bald von zuhause aus und in der ersten eigenen Wohnung zog ein zweites Kaninchen ein. Titus, ein winziger schwarzweißer Schecke. Die beiden Rammler wurden nun endlich auch kastriert und lebten als Pärchen sehr glücklich zusammen. In freier Zimmerhaltung wenigstens.

In den folgenden Jahren lernte das Mädchen immer mehr über Kaninchen und deren Bedürfnisse und schrittweise verbesserte sie ihre Haltung. Einsame Kaninchen gab es gar nicht mehr und die Zimmerhaltung verlagerte sich immer mehr nach draußen bis viele Jahre später die Bedingungen sehr gut geworden waren. Außengehege, Gruppe, gesunde Ernährung. Das sind jetzt Standards. Aus dem Mädchen ist längst eine Frau und Mutter geworden und seit über 40 Jahren gehören Kaninchen zu ihrem Leben und in die Familie. Die größte Gruppe bestand aus 10 Tieren für einige Zeit. 32 Kaninchen haben ihr Leben geteilt und jedes ist unverwechselbar im Charakter und Verhalten.

Die ersten vier waren Opfer. Opfer aufgrund der Umstände, weil Kinder unreif und grausam sind, weil Dilettanten am Werk waren, weil der Alltag in den 70er, 80er und 90er Jahren vor dem Internet eine Informationswüste war.

Wenn die Menschenfrau heute zurückdenkt an diese ersten Opfer, spürt sie das Leid der Vergangenheit und trauert um die verlorenen Leben der vier Kaninchen. Es lässt sich nicht wieder gut machen. Nur die Zukunft lässt sich verbessern.

So hat sie ihr Herz für alle Zeiten an Kaninchen verloren. Einige sind von ihr gerettet worden, aus dem Tierheim, aus sehr schlechter Haltung. Das macht Molli, die zwei Schnuckis und Miranda nicht wieder lebendig und gibt ihnen ihr geraubtes Leben nicht zurück. Aber für Jonas1, Titus, Tobias, Lukas, Tim, Felix, Noriah, Gulla1, Tom1, Jonas2, Gulla2, Tom2, Lexa, Zara, Ben, Zorro, Leonie, Stella, Kira, Lilo, Nano, Toni, Max, Moritz, Berta, Paula, Finn, Crain, Lotti, Emeran, Kora und Nelli macht es DEN Unterschied.

aufgeschrieben 2014
Klarah z


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