Um jeden Preis

Um jeden Preis

Augen auf beim Kaninchenkauf, Tiere mit Ausfluss aus Nase oder Augen, Tiere mit durchfallverklebtem Fell unbedingt meiden – soweit die GU-Hobby-Ratgeber Zwergkaninchen.

Was aber tun wenn ein entzückendes schwarz-weißes Wollknäuel unsere Seele berührt binnen eines einzigen Herzschlags? Gefühl gegen Vernunft, eigentlich sind da schon zwei, eigentlich wird es schwierig ein junges Weibchen mit einem Pärchen zu vergesellschaften und doch... die Versuchung zu groß, meist widersteht man ja, unterstützt man doch keinesfalls diese skrupellosen Vermehrer, am besten man betritt erst gar nicht so ein tierfeindliches Zoogeschäft, denn dann passiert genau das – Spontankauf.

So wurde Gulla, das winzige Kaninchenbaby, weiß mit schwarzer Zeichnung von der Verkäuferin gegriffen, im Hinterzimmer noch hastig mit einer groben Bürste bearbeitet um braun verklebtes Fell am Hinterteil zu vertuschen. Die junge Frau, die hier schwach geworden war und nun das Kaninchen einfach kaufen musste, bat jedoch das zu lassen. Sie hatte den Durchfall und auch den Ausfluss an Augen und Nase bereits entdeckt. Für sie kein Grund das Kaninchen nicht zu nehmen, eher im Gegenteil. Sie fühlte dass dieser Winzling besondere Fürsorge brauchen würde. So geschehen in München, im Jahre 1992.

Sie trug den gelochten Karton vorsichtig wie ein rohes Ei nach Hause. Die Kleine bekam erst mal ein Quartier in der Küche. Sie musste gepäppelt und gepflegt werden. Viel zu klein noch, viel zu früh von der Mutter genommen, vermisste Gulla ihre Mama und deren Milch noch so sehr, dass sie sich bei der ersten Gelegenheit sogar über eine verschüttete Dosenmilch hermachte und diese restlos aufschleckte.

Probleme mit dem Darm, Verdauungsstörungen, schwere Koliken, Unverträglichkeit von Salat und Kohl sollten Gulla ihr kurzes Leben lang begleiten, denn alt wurde dieses Kaninchen nicht. Doch es wuchs zunächst einmal heran und wurde kräftiger. Fröhlich und verschmust erfreute es seine Menschen. Süß so ein Hase in der Küche, doch die Menschenfrau hatte andere Pläne mit Gulla, nämlich artgerechte Außenhaltung mit Kaninchengesellschaft.

Es kam der Tag an dem Gulla ins Hasenhaus mit Freigehege im Garten umsiedeln sollte Zu Felix und Noriah, dem Geschwisterpärchen aus dem Dachauer Tierheim, die bereits mit dem Riesen Tim gelebt hatten, deren Vergesellschaftung mit dem großen Tom aber kläglich gescheitert war. Nun sollte die kleine Gulla zu ihnen gesellt werden.

Die Frage war allerdings das Wie? Die Menschenfrau war keinen Deut klüger geworden seit der Katastrophe mit Toms Vergesellschaftung. Sie kannte nicht die Notwendigkeit eines neutralen Reviers, kannte nicht die Regeln für eine Vergesellschaftung, konnte normales Verhalten bei der Begegnung zwischen fremden Kaninchen nicht von kritischem unterscheiden. Sie kannte, bis auf die fürchterliche Ausnahme mit Noriah und Tom, nur verträgliche kastrierte Rammler, die sich sofort anfreundeten trotz Regelverstoß und grober Fehler seitens des Menschen. Sie dachte dass Gulla, die Kleine, doch viel weniger bedrohlich wirke als der große Tom, dass es schon klappen würde, dass Felix und Noriah so einem kleinen süßen Baby doch nichts tun würden.

Sie nahm die kleine Gulla und setzte sie einfach ins Revier zu Felix und Noriah. Vor allem Noriah, der ausgewachsenen Häsin. Sofort flogen die Fetzen. Fell und Blut, wilde Jagden, verknäulte Tiere, die pure Katastrophe. Gulla kam wieder raus, zurück in die Küche. Neuer Tag, neuer Versuch, gleiches Ergebnis. Die Menschenfrau verzweifelte. Sollte sich alles wiederholen? Würde es nicht klappen? Musste sie sich auch von Gulla trennen – wie von Tom? Warum war es so schwierig? Lag das grundsätzlich an den Weibchen? Was sollte sie tun? Sie probierte eine andere Konstellation. Noriah kam vorübergehend in die Küche, Gulla mit Felix ins Hasenhaus. Das ging schon besser. Felix und Gulla kamen miteinander klar aber das war wenig hilfreich, denn Noriah und Gulla bekämpften sich bis aufs Blut bei jeder Begegnung.

In ihrer Verzweiflung wandte sich die Menschenfrau an den Tierarzt. Ob die Kastration der älteren Häsin, Noriah, seiner Meinung nach helfen könne, die Aggressionen zu dämpfen. Der Tierarzt hielt das für möglich, aber nicht sicher. Dennoch hatte niemand eine andere Idee. Um jeden Preis musste jetzt eine Lösung her.

So kam Noriah denn tatsächlich unter das Messer. In Narkose wurden Eierstöcke und Gebärmutter entfernt. Eine riskante Aktion, denn Vollnarkosen bei Kaninchen waren in den 90er Jahren noch reine Glückssache. Noriah hatte aber dieses Glück. sie überlebte die OP. Mit einer extrem langen Wunde am Bauch kam sie heim, sehr geschwächt, apathisch die ersten Tage, sie wurde im Zimmerstall intensiv gespflegt, musste einen selbst gebastelten Body gegen Aufbeissen der Fäden tragen. Die Menschenfrau wurde von Schuldgefühlen überschwemmt als sie das vormals vitale Kaninchen so leiden sah. Sie zweifelte an der moralischen Vertretbarkeit einer derart brachialen Methode – und es ist auch nicht vertretbar, nicht nach heutiger Philosophie. Einzig medizinische Aspekte rechtfertigen einen solchen Eingriff. Nach sehr neuen Erkenntnissen kann sogar die vorbeugende Entfernung der Gebärmutter für jede Häsin sinnvoll sein, Voraussetzung ist allerdings die verbesserte sicher gewordene Vollnarkose für Kaninchen, die allmählich zum Standard wird.

Bei Noriah war es russisch Roulette damals, ein verzweifelter Versuch Menschenfehler auszubügeln. Mangel an Wissen, fehlende Infos über das Sozial- und Revier-Verhalten von Kaninchen führen zu solchen schlimmen Situationen, zu Bissverletzungen, Schmerz und Leid für die Tiere.

Irgendwie hat es anschließend geklappt. Noriah wurde rasch gesund, vielleicht profitierte sie sogar von der entfernten Gebärmutter, sie kam nach zwei Wochen Genesungszeit wieder ins Hasenhaus, in dem sich mittlerweile Gulla mit Felix eingerichtet und angefreundet hatte. Gulla gab sich nicht aggressiv, sie war das unterlegene Tier und respektierte Noriah sofort als ranghöheres Weibchen. Noriah war noch mitgenommen, vielleicht trug auch tatsächlich die weibliche Kastration ihren Teil dazu bei, jedenfalls fanden die drei Kaninchen zu einer harmonischen Kleingruppe.

Gulla, Felix und Noriah lebten zusammen im Hasenhaus, tagsüber im Gehege, hatten oft Freilauf unter Aufsicht im ganzen großen Garten.

Gulla kränkelte allerdings seit Anfang an, sie hatte nie ein gesundes Verdauungssystem entwickelt und litt permanent unter Durchfall und Koliken. Ihre Säugezeit bei der Mama war zu kurz gewesen, auch fütterte die Menschenfrau damals noch ziemlich falsch. Es gab neben Karotten, Äpfeln, Heu und Löwenzahn auch Brot und Trockenfutter, massive Fehler rund um das Kaninchen, Bauernweisheiten, Halbwissen, Fehlinfos, Mythen.

Leidtragende sind immer die Tiere. Trotz bestem Willen. Liebe reicht nicht, Sachwissen ist unverzichtbar.

Erst Jahre später, mit Beginn des neuen Jahrtausends, mit Etablierung des Internet, als Kaninchenforen und Infoseiten wie Kaninchenwiese.de wirklich aufklärten, setzte sich das Wissen allmählich durch. Bekamen immer mehr Kaninchen landesweit eine Chance, gute richtige Haltung zu erfahren.

Gulla starb im Jahre 1994, kaum eineinhalb Jahre alt, an einer schweren schmerzhaften Kolik. Das schwarze Kaninchen des Todes erlöste sie vom immer wiederkehrenden Schmerz und führte sie heim zu El-ahrairah, dem Gott der Kaninchen aus dem Buch „Unten am Fluss (Watership Down)“.

„Mein Herz hat sich mit den Tausend verbunden, denn nie wieder wird mein Freund mit mir um die Wette laufen“ Watership Down

aufgeschrieben Januar 2018 – Klarah z

Quellen
Narkose beim Kaninchen 2014 Tierarzt Dr. Rückert
Kastration beim weiblichen Kaninchen 2017 Tierarzt Dr. Rückert

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